Rechtsstaatlichkeit in der EU

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ede

Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#11

Beitrag von ede » Mi 18. Nov 2020, 09:39

leopold hat geschrieben:
Mi 18. Nov 2020, 08:26
Nie wird jeder mit jedem Urteil einverstanden sein, aber daraus hierzulande eine systematische politische Beeinflussung der Justiz abzuleiten, ist naiv und beweist lediglich, dass hier von vielen gar nicht verstanden wird, was in Staaten wie Ungarn und Polen überhaupt das Problem ist. Die dortigen Regierungen der PIS und Orbans sind nämlich gerade im Begriff, die Gewaltenteilung abzuschaffen und die Presse gleichzuschalten. Dies widerspricht den Grundregeln der EU, denen sich alle Mitgliedsländer beim Beitritt unterworfen haben. Es war deswegen überfällig, dass die EU solche Bestrebungen endlich wirksam sanktionieren kann, das Instrumentarium dazu wird sie nun bald haben.
Die hier genannten Bespiele wie das Urteil zum Klimacamp oder die Verwaltungsgerichtsurteile zur deutschen Corona-Politik sind ja wohl eher Belege für die Unabhängigkeit deutscher Gerichte.
Ich glaube, dass niemand hier die Entwicklung in Polen und in Ungarn verharmlosen will. Inwieweit die EU selbst daran schuld, dass sie in eine solche Krise geraten ist, wäre ein anderes - ganz wichtiges - Thema. Liegt womöglich daran, dass man gar keine Mehrheitsabstimmungen haben wollte, um möglichst viele Mitgliedsländer für den Beitritt zu gewinnen bzw. dass genau das etliche Beitrittsländer abgelehnt hätten und nicht beigetreten wären. Denn die Sinnentleertheit eines Vetorechts, sprich die sich daraus ergebende Machtlosigkeit selbst einer überwältigenden Mehrheit, müsste man ja eigentlich kennen, siehe UN.

Zurück zur politischen Unabhängigkeit der deutschen Justiz.
Thomas Groß, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsvergleichung an der Universität Osnabrück, ist da nicht so voll überzeugt.
Die institutionelle Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland – ein Defizitbefund
Die deutsche Staatsanwaltschaft darf wegen fehlender Unabhängigkeit keine Europäischen Haftbefehle ausstellen. So sieht es der EuGH in seinem Urteil vom 27. Mai 2019 (dazu an dieser Stelle auch schon Klaus Ferdinand Gärditz). Das Urteil sollte Anlass für eine allgemeinere Debatte über die Unabhängigkeit der Justiz sein. Denn die in Deutschland geltenden Regelungen setzen einer politischen Instrumentalisierung der Justiz keine ausreichenden Hindernisse entgegen. Entwicklungen wie in Polen oder Ungarn wären auch in Deutschland rechtlich möglich (...)
Über die Berufung der Richter*innen an den obersten Gerichtshöfen des Bundes entscheidet nach Art. 95 Abs. 2 GG der zuständige Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss, der je zur Hälfte aus Landesminister*innen und Mitgliedern besteht, die vom Bundestag gewählt werden. Zurzeit handelt es sich ausschließlich um Abgeordnete. Diese rein politische Besetzung des Gremiums führt dazu, dass de facto niemand als Bundesrichter*in zum Zuge kommt, der keine Kontakte zu einer der potentiell mehrheitsfähigen Parteien hat. In der Regel werden dafür Personalpakete geschnürt (...)
Ein Indiz für das Misstrauen in die Objektivität der Personalentscheidungen ist, dass kaum noch eine Leitungsposition ohne Konkurrentenstreit besetzt werden kann. Spielt man einmal durch, was passieren könnte, wenn z.B. ein AfD-Mitglied ein Justizministerium leiten und nur seine Spezis befördern würde, liegt das Problem auf der Hand (...)
So hat das Ministerkomitee des Europarats in seiner Empfehlung 2010(12) über Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortlichkeit der Richter unter Nr. 46 festgehalten, dass die Institution, die über die Einstellung und die Karriere von Richter*innen entscheidet, unabhängig von der Exekutive und der Legislative sein und mindestens zur Hälfte mit Richter*innen besetzt sein soll, die von ihresgleichen gewählt werden (...)
Wir sehen die abschreckenden Beispiele einer politischen Instrumentalisierung der Justiz nicht nur in Ostmitteleuropa, sondern am deutlichsten in der Türkei, die übrigens auch Mitgliedstaat des Europarats ist. Wir würden wohl zu Recht befinden, dass Deutschland solche Entwicklungen derzeit nicht fürchten muss. Und doch: Sollten die aktuellen Entwicklungen und die internationale Debatte nicht Anlass sein, sie auch in und für Deutschland wieder aufzunehmen?
PS: Ihr letzter Satz ist etwas gedankenlos. Er kann sowohl die Unabhängigkeit als auch die Abhängigkeit deutscher Gerichte belegen. Das hängt vom Betrachter ab.



Gast_9

Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#12

Beitrag von Gast_9 » Mi 18. Nov 2020, 16:46

leopold hat geschrieben:
Mi 18. Nov 2020, 08:26
Nie wird jeder mit jedem Urteil einverstanden sein, aber daraus hierzulande eine systematische politische Beeinflussung der Justiz abzuleiten, ist naiv und beweist lediglich, dass hier von vielen gar nicht verstanden wird, was in Staaten wie Ungarn und Polen überhaupt das Problem ist. Die dortigen Regierungen der PIS und Orbans sind nämlich gerade im Begriff, die Gewaltenteilung abzuschaffen und die Presse gleichzuschalten. Dies widerspricht den Grundregeln der EU, denen sich alle Mitgliedsländer beim Beitritt unterworfen haben. Es war deswegen überfällig, dass die EU solche Bestrebungen endlich wirksam sanktionieren kann, das Instrumentarium dazu wird sie nun bald haben.
Die hier genannten Bespiele wie das Urteil zum Klimacamp oder die Verwaltungsgerichtsurteile zur deutschen Corona-Politik sind ja wohl eher Belege für die Unabhängigkeit deutscher Gerichte.
Also von einer systematischen Beeinflussung der Justiz war nirgendwo die Rede. Selbst in Russland werden Urteile gefällt die dem Kreml nicht passen.

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leopold
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Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#13

Beitrag von leopold » Mi 18. Nov 2020, 17:11

Die übliche Argumentation aller Populisten und deren Anhänger: Ist doch nicht so schlimm, das machen doch alle und deswegen sind auch alle gleich. Je weniger die Leute über ein Thema wissen, desto eher verfängt der Trick. Am Ende stehen dann Figuren wie Trump oder Johnson, die sich um Differenzierungen und die Wahrheit nicht mehr kümmern brauchen.

ede

Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#14

Beitrag von ede » Mi 18. Nov 2020, 18:16

leopold hat geschrieben:
Mi 18. Nov 2020, 17:11
Die übliche Argumentation aller Populisten und deren Anhänger: Ist doch nicht so schlimm, das machen doch alle und deswegen sind auch alle gleich. Je weniger die Leute über ein Thema wissen, desto eher verfängt der Trick. Am Ende stehen dann Figuren wie Trump oder Johnson, die sich um Differenzierungen und die Wahrheit nicht mehr kümmern brauchen.
Sagen Sie bloß, Sie halten Thomas Groß, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsvergleichung an der Universität Osnabrück, für einen Populisten.
Man sollte halt nicht alles unkritisch und selbstzufrieden nachplappern, was man tagtäglich in den ÖR und in den Mainstream-Medien hört und liest.
Die besondere Vorgeschichte und neue Lage der ehemaligen Ostblockstaaten, die jetzt fast alle in der EU sind, wurde ja bei deren Aufnahme weder groß berücksichtigt noch vorher oder nachher groß thematisiert. Soviel zum Thema "Rechtstaatlichkeit". Offensichtlich glaubte man, dass Geld und Konsumrausch den Übergang von einem diktatorischen in ein demokratisches System problemlos schmieren.
Zudem würde es auch nicht schaden, wenn man auch das eigene politische System und dessen Strukturen etwas differenzierter sieht. Siehe den oben genannten Professor.

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Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#15

Beitrag von leopold » Mi 18. Nov 2020, 18:23

ede hat geschrieben:
Mi 18. Nov 2020, 18:16
Sagen Sie bloß, Sie halten Thomas Groß, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsvergleichung an der Universität Osnabrück, für einen Populisten.
Nein, den nicht :mrgreen: , aber der vergleicht auch nicht die - sicher vorhandenen - Schwächen des deutschen Rechtssystems mit den antidemokratischen Umtrieben in Polen und Ungarn. Der würde sich vermutlich sauber bedanken, wenn er wüsste, dass Sie ihn in diesem Zusammenhang zitieren.

ede

Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#16

Beitrag von ede » Mi 18. Nov 2020, 19:02

leopold hat geschrieben:
Mi 18. Nov 2020, 18:23
Nein, den nicht :mrgreen: , aber der vergleicht auch nicht die - sicher vorhandenen - Schwächen des deutschen Rechtssystems mit den antidemokratischen Umtrieben in Polen und Ungarn. Der würde sich vermutlich sauber bedanken, wenn er wüsste, dass Sie ihn in diesem Zusammenhang zitieren.
Nein, würde er wohl nicht.
Er würde es wohl eher schätzen, dass es Menschen gibt, die zu einer differenzierteren Betrachtungsweise fähig sind als die, die sich gerne als moralisch-politische Keulenschwinger geben.
Immerhin schrieb er: "Entwicklungen wie in Polen oder Ungarn wären auch in Deutschland rechtlich möglich."

Noch eine Empfehlung zur Lektüre. Hab ich schon vor einiger Zeit gespeichert. Das essentielle europäische Problem, der Umgang mit Flüchtlingen, aus der Sicht des ungarischen grünen Parlamentariers Péter Ungár.
Nein, er schont Orban keineswegs.
Ein ungarischer Blick auf Europa
Der Artikel ist von Thomas Wahl, die eingeschobenen Zitate (kursiv) von Péter Ungár
"Die Debatte über die Migration ist zu einer der grundlegendsten des europäischen Lebens geworden. Auf ihr basieren politische Identitäten und Kampagnen. Doch eine Klärung der Frage, wer genau welchen Wandel in der Migrationspolitik will, ist bisher zu kurz gekommen. Stattdessen erleben wir konkurrierende moralisierende Diskurse und die Debatte selbst ist zu einem Instrument geworden, in dem jede Seite ihre Identität beanspruchen kann ...
Der eigene Staat sollte kontrollieren, wer das Land betreten darf und wer nicht. Die ungarische Regierung nutzte diesen Wunsch der Bevölkerung aus, indem sie einen riesigen Zaun baute, ...... Während die EU zögerte, handelte der ungarische Staat, und diejenigen von uns, die sich für eine europäische Lösung der Migrantenkrise ausgesprochen hatten, befanden sich zunehmend auf der Verliererseite der Debatte ...
Der Zaun, den die ungarische Regierung an der Grenze zu Serbien errichten ließ, mag eine anstößige, verabscheuungswürdige Antwort auf die Ängste vieler Bürger gewesen sein, aber er war immerhin eine Antwort ...
Tatsächlich stellt die Migration eher etwas Symbolisches dar als eine konkrete Bedrohung unserer gemeinsamen Lebensweise. Menschen, die das Gefühl eint, dass sie nichts zu sagen haben, keine Möglichkeit haben, zu kontrollieren, wie die Globalisierung ihre Umgebung verändert, projizieren dies oft auf die Migration. Sie ist gewissermaßen zu einem Symbol der Globalisierung und des Kontrollverlusts geworden."
(Péter Ungár)

Leider wurde die Migration dadurch von einem eigentlich lösbaren politischen Thema zum Kampfinstrument, zu einer moralischen Keule. Und zu einer sich selbst verschärfenden politischen Kluft zwischen Ost und West. Dabei wird auch die Untätigkeit oder gar Unfähigkeit der EU offengelegt. Eine Bombe für die Gemeinschaft (Thomas Wahl)

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Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#17

Beitrag von thai.fun » Mi 18. Nov 2020, 23:54

sbc hat geschrieben:
Mi 18. Nov 2020, 16:46
Selbst in Russland werden Urteile gefällt die dem Kreml nicht passen.
Dafür hat Putin dann seine Milizionäre, Prügelknaben, Mordsbanden, Nachtwölfe und Biker Gangs.

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Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#18

Beitrag von Gast_9 » Do 19. Nov 2020, 07:32

thai.fun hat geschrieben:
Mi 18. Nov 2020, 23:54
Dafür hat Putin dann seine Milizionäre, Prügelknaben, Mordsbanden, Nachtwölfe und Biker Gangs.
Das ist ja furchtbar. Daß sich da überhaupt noch jemand auf die Straße traut....

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Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#19

Beitrag von FCAler » Do 19. Nov 2020, 10:18

sbc hat geschrieben:
Do 19. Nov 2020, 07:32
Das ist ja furchtbar. Daß sich da überhaupt noch jemand auf die Straße traut....
Sind Sie lieber froh,
dass Sie in dem nach Ihrer Ansicht im "völlig undemokratischen Deutschland" leben dürfen! :info:
In Russland würden Ihnen wohl ganz schnell die Augen aufgehen und zu tränen beginnen! :joint:
Nur der FCA und der FSV Wehringen
https://ichbineinwehringer.jimdofree.com

Gast_8

Re: Rechtsstaatlichkeit in der EU

#20

Beitrag von Gast_8 » Do 19. Nov 2020, 10:45

FCAler hat geschrieben:
Do 19. Nov 2020, 10:18
Sind Sie lieber froh,
dass Sie in dem nach Ihrer Ansicht im "völlig undemokratischen Deutschland" leben dürfen! :info:
In Russland würden Ihnen wohl ganz schnell die Augen aufgehen und zu tränen beginnen! :joint:
Da hätte Sie schon lange ein "Ferienhaus in Irkutsk gebucht", :joint:
Ferienhaus in Irkutsk nennt man bei Insider Gullag. :info:

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